Disabled Theater: die Folgen einer Zusammenarbeit
Die vorliegende Dissertation entstand im Rahmen des SNF-Forschungsprojektes DisAbility on Stage – Exploring the Physical in Performing Arts Practices, das auf der Zusammenarbeit von vier verschiedenen Schweizer Hochschulen – der Zürcher Hochschule der Künste, den Universitäten Bern und Basel sowie der Accademia Dimitri in Verscio – beruhte. Vertreten wurden die entsprechenden Hochschulen vom Institute for the Performing Arts and Film der Zürcher Hochschule der Künste als Hauptgesuchsteller, dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, dem Institut für Europäische Ethnologie der Universität Basel und dem Forschungsbereich der Accademia Dimitri in Verscio als Mitgesuchstellende.
Gegenstand der Arbeit sind sowohl die Inszenierung Disabled Theater, die aus der einmaligen Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer Theater HORA und dem französischen Choreografen Jérôme Bel entstand und am 10. Mai 2012 im Rahmen des kunstenfestivaldesarts in Brüssel Premiere feierte, als auch die Folgen, die sich aufgrund dieser Zusammenarbeit für das Theater HORA ergaben.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Theater HORA und Jérôme Bel führte dazu, dass Disabled Theater auf den Bühnen der bekanntesten europäischen Theater- und Tanzfestivals mit grossem Erfolg aufgeführt werden konnte. Die dadurch gewonnene Sichtbarkeit von Menschen mit geistiger Behinderung auf den zeitgenössischen europäischen Bühnen sowie die Art und Weise, wie die Inszenierung mit dem Thema der geistigen Behinderung in Bezug auf die Darsteller, das Publikum und den gesamten Theaterapparat umging, löste in der zeitgenössischen Theater- und Tanzszene eine Vielzahl kontroverser Debatten aus. Der Grund dafür war, dass durch den Erfolg dieser Inszenierung zwei bisher voneinander getrennte Kunstbereiche zusammengeführt wurden – der des sogenannten Behindertentheaters, dem das Theater HORA und ähnliche Ensembles meist zugerechnet werden, und jener des zeitgenössischen Tanzes, für den unter anderem Jérôme Bel steht. Ausserdem wurde in den Gesprächen über die kontrovers diskutierte Inszenierung ersichtlich, dass sowohl das Sprechen als auch das Schreiben über diese Form der performativen Kunst auf der Bühne eine Herausforderung ist.
Diese Beobachtung lässt vermuten, dass sich die Art und Weise, wie über diese Form der performativen Kunst von und mit Darstellern mit geistiger Behinderung gesprochen oder geschrieben wird, aufgrund dieser intensiven Auseinandersetzung verändert haben könnte. In diesem Zusammenhang stehen zwei Akzentverschiebungen im Fokus. Zunächst fällt eine Veränderung in der Art und Weise der Medienberichterstattung auf. Einerseits geschah diese quantitativ, da aufgrund der Inszenierung eine Vielzahl von Rezensionen weltweit erschienen ist. Andererseits wurde die Aufmerksamkeit immer mehr auf die individuellen Künstler und deren Leistungen gerichtet.
Durch die enorme Aufmerksamkeit für Disabled Theater sowie das Projekt HORA – und vielleicht sogar für die Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung im Allgemeinen – ist ein bisher so noch nicht da gewesener Diskurs entstanden. Ebenso ist festzustellen, dass sich dieser Diskurs seitens der sogenannten Nichtbehinderten im Modus des Othering vollzog. Im Kern meint Othering die Distanzierung von Anderen oder Anderem zur Bestätigung des Eigenen oder Normalen.
Im Rahmen der Dissertation soll nun festgestellt werden, ob das Theater HORA mit Disabled Theater innerhalb der schweizerischen Theater- und Tanzszene etwas bewirkt hat und wenn ja, was. Zudem stellt sich damit einhergehend die Frage, ob sich die Rolle von Theater HORA innerhalb dieser Szene verändert hat.
Da die Autorin der vorliegenden Dissertation die Entwicklungen des Theater HORA grösstenteils begleitet und mitgestaltet hat, fliesst diese persönliche Prägung in die wissenschaftliche Betrachtungsweise mit ein. Dieser Sachverhalt soll an dieser Stelle erwähnt und transparent gemacht werden, um zu gewährleisten, dass die Leserschaft gewisse Gedankengänge besser nachvollziehen kann.